Eine wirksame antiretrovirale Behandlung schützt nicht nur HIV-Patient*innen vor einer Aids-Erkrankung. Sie stoppt auch die Übertragung der tödlichen Seuche. Das Team von Prof. Dr. Niklaus Labhardt vom Swiss TPH und der Schweizer NGO Solidar-Med untersucht deshalb wie Patient*innen mit einer HIV-Infektion in einem Land wie Lesotho möglichst rasch und effektiv behandelt werden können.
Christian Heuss
Lesotho. Die Anspannung ist gross. Alle Blicke richten sich auf den schmalen, weissen Papier-Streifen. Ein Balken bedeutet HIV-negativ, zwei Balken eine HIV-Infektion. Leise spricht die 24-jährige Palesa mit der Solidar-Med-Gesundheitsarbeiterin. Dann kommt endlich die Er-
lösung. Der Kontrollstrich erscheint auf dem Streifen, der zweite Strich ist ausgeblieben. HIV-negativ. Ein Lächeln huscht über Palesas Gesicht. Sie ruft ihren Mann, der vor der Hütte seine Schafe über die ausgefressene Weide getrieben hat. Minuten später wird klar: auch er HIV-negativ. Ein Glückstag für das junge, noch kinderlose Paar.
Keine Selbstverständlichkeit. Denn im ländlichen und gebirgigen Lesotho ist jeder vierte Mensch mit der Virus-Krankheit angesteckt. Viele Menschen in den abgelegenen
Bergdörfern auf über 1 500 Metern Höhe kennen ihren HIV-Status nicht. Tests und Medikamente wären in den Gesund-heitszentren zwar vorhanden. Doch die Menschen finden den Weg dorthin nur allzu selten. Der mehrstündige Fussmarsch über steile Bergwege und Strassen sind eine zu grosse Hürde. Ein Transport mit dem Taxi zu teuer. Und so breitet sich das Virus weiter aus und macht Lesotho zu einem der HIV-belastetsten Länder der Welt.
«Für uns war das eine unhaltbare Situation», sagt der HIV-Spezialist Niklaus Labhardt vom Swiss TPH zum Ausgangspunkt seiner Anstrengungen. «Die klinische Behandlung von HIV ist ja eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Doch in Ländern wie Lesotho ist der Zugang zu Diagnose und Therapie das zentrale Problem.»
In der nördlichen Hemisphäre haben die hochwirksamen und immer günstigeren antiretroviralen Therapien die einst tödliche Seuche in eine chronische Krankheit verwandelt. HIV-infizierte Menschen unter Behandlung haben eine beinahe normale Lebenserwartung und sind für ihre Sexualpartner auch nicht mehr ansteckend. Doch in Afrika südlich der Sahara und speziell in Lesotho bleibt die Situation noch immer dramatisch. Die Zahl der HIV-infizierten Menschen, die nicht in Therapie sind, bleibt hoch.
Ein neuer Behandlungsansatz für Lesotho – wegweisend für ganz Afrika
SolidarMed und das Swiss TPH spannten 2016 zusammen, um neue Behandlungswege auszuprobieren. Anstatt darauf zu hoffen, dass Menschen aus eigener Initiative ins Gesundheitszentrum kommen, um sich auf HIV testen zu lassen, drehten Niklaus Labhardt und sein Team den Spiess um. «Wir wollten wissen, ob die Menschen bereit sind, sich zu Hause testen zu lassen und auch direkt in eine Therapie einzusteigen.» Im Rahmen der CASCADE-Studie verfolgte das Team diese Fragen. Gesundheitsteams von SolidarMed bestehend aus einer Projektkrankenschwester und bis zu 12 Laienberater besuchten in einem Zeitraum von drei Monaten 60 zufällig ausgewählte, abgelegene Bergdörfer mit über 6 600 Haushalten im Distrikt Butha Buthe. Nach teilweise extrem beschwerlichen Anfahrten mit Geländewagen über Stock und Stein schritten die SolidarMed-Feldteams von Hütte zu Hütte und boten den anwesenden Bewohner*innen, wie der 22-jährigen Palesa, den freiwilligen HIV-Test an.
Der Zuspruch war überraschend gross. Über 90 % der Leute wollten sich testen lassen. Wer als HIV-positiv identifiziert wurde, erhielt eine Beratung vor Ort und Tabletten für einen Monat oder wie bisher eine Einweisung ins nächste Gesundheitszentrum. Mit dieser Vergleichsstudie wollte Niklaus Labhardt sehen, ob ein Test und der sofortige Start der Therapie zu einer besseren Behandlungstreue führen können – eines der zentralen Ziele der 90-90-90-Strategie
der Weltgesundheitsbehörde (siehe Kasten). Die Studie war ein bahnbrechender Erfolg. Nach drei Monaten waren 69 % der Sofort-Behandelten unter Therapie. Im Vergleich dazu waren von jenen HIV-infizierten Menschen, die das Gesundheitszentrum aufsuchen mussten, nur noch gerade 43 % der HIV-Infizierten unter Therapie. «Der Test im Dorf und die Behandlung vor Ort machen hier offenbar einen entscheidenden Unterschied.»
Doch ein Problem bleibt. Beim Besuch der Gesundheitsteams sind nie alle Mitglieder eines Haushalts zu Hause. Viele Männer arbeiten auswärts in den Minen, als Hirten oder
teilweise sogar als Saison-Arbeiter in Südafrika. «Wir müssen auch diese Personen erreichen», sagt Labhardt. Wiederum schickte er darum unter Leitung von Alain Amstutz, Arzt und Doktorand vom Swiss TPH, die Gesundheitsteams von SolidarMed los. Bei Haushalten, wo ein Mitglied fehlte, hinterliess das Team einen oralen Selbsttest. Sobald das auswärtige Familienmitglied nach Hause kam, sollte es sich selber auf HIV testen. Ein Wisch über die Backenschleimhaut genügt bereits für ein Testresultat. Der Dorfsanitäter sammelt den Test nach spätestens zwei Wochen wieder ein.
Auch die Resultate dieser Studie waren ein grosser Erfolg. Mit dem zurückgelassenen Selbsttest konnte die Zahl der getesteten Personen auf über 80 % der Bewohner gesteigert werden. Eine Erhöhung um 20 %.
Gleichzeitig änderte auch die Abgabe der Medikamente. In Lesotho gibt es in jedem Dorf sogenannte Village Health Workers. Diese Gesundheitssanitäter, die vom Gesundheitsministerium einen kleinen Lohn erhalten, haben die Aufgabe, die Gesundheitssituation im Dorf zu kennen, einfachste Behandlungen zu begleiten oder einen kranken Patienten ins Gesundheitszentrum zu führen. Im Rahmen der Studie erhielten sie nun eine neue Aufgabe. Sie sollten die HIV-positiv getesteten Bewohner*innen lokal im Dorf
mit den antiretroviralen Medikamenten versorgen. Das bringt entscheidende Vorteile: Patient*innen müssen ihre lebenswichtigen Medikamente nicht mehr an der weit ent-
fernten Klinik abholen, einer der Hauptgründe, warum Patient*innen ihre Therapie abbrechen. Gleichzeitig entlastet dieses Vorgehen die Gesundheitszentren, die von HIV-Patient*innen überschwemmt werden, die keine weitere Behandlung, sondern nur Nachschub an Medikamen-
ten benötigen.
Auch hier messen die Wissenschaftler aus Basel zusammen mit dem Team in Lesotho nun die Wirkung dieser Massnahme. «Wir hoffen, dass wir mit dieser neuen Abgabepraxis deutlich mehr Patienten unter Therapie finden werden», sagt Alain Amstutz zur Studie, die derzeit ausgewertet wird. Die Ergebnisse werden Mitte 2020 erwartet.
Für Niklaus Labhardt bleibt ein grosses Ziel: «Ich möchte erreichen, dass die künftigen Behandlungsguidelines für Afrika es erlauben, Patient*innen, denen es unter Therapie
gut geht, auch ausserhalb der Klinik durch geschulte Laien zu betreuen.»
Die 90-90-90 Ziele von UNAIDS
Bis 2020 sollen 90 % aller HIV-Infizierten ihren HIV-Status kennen, 90 % davon erhalten eine antiretrovirale Behandlung und bei wiederum 90 % der Behandelten ist das Virus im Blut nicht mehr nachweisbar. Dieses ambitiöse Ziel hat UNAIDS vor fünf Jahren ausgerufen. Viele Länder südlich der Sahara sind von den Zielen noch weit entfernt.
SolidarMed und das Swiss TPH forschen gemeinsam
SolidarMed trägt seit vielen Jahrzehnten zur medizinischen Grundversorgung in Lesotho bei und ist ein geschätzter und respektierter Partner der Behörden und lokalen Gesundheitseinrichtungen. Das Swiss TPH bringt grosse Erfahrung in der Durchführung komplexer medizinischer Studien mit. Gemeinsam finden die beiden Institutionen neue Behandlungsansätze, überprüfen diese wissenschaftlich und bringen sie zur Anwendung. Im Zentrum stehen immer hilfsbedürftige Patienten und das Ziel, die medizinische Versorgung zu verbessern.
solidarmed.ch
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