Ori Schipper
Vergiftungen durch Schlangen sind behandelbar, trotzdem führen sie allein in Indien zum Tod von jährlich fast 60 000 Personen. Das soll sich nun ändern – dank einer App, die die Angehörigen der Opfer, die Rettungssanitäter und die Ärzteschaft darüber informiert, was sie wann tun können, um den Gebissenen zu helfen.
Eine jahrzehntelange Zusammenarbeit, die sich längst zu einer Freundschaft entwickelt hat, verbindet Mauro Bodio und Thomas Junghanss. Der Gifttierexperte in Basel und der Tropenmediziner in Heidelberg haben sich erstmals in den 1990er-Jahren kennengelernt. Und bald darauf beschlossen, ihr Wissen über Gifttiere in einem Notfall-Handbuch zu bündeln, das 1996 im Georg Thieme Verlag erschienen ist.
Vollständigste Übersicht über Gifttiere
Auf über 600 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen zeigt das Buch auf, was zu tun ist, wenn sich jemand etwa eine Fischvergiftung zugezogen hat oder von einer giftigen Spinne oder Schlange gebissen wurde. Das Werk «kann als die wohl vollständigste [...] deutschsprachige Übersicht auf diesem Gebiet gelten», ist in einer Besprechung des Buchs im Deutschen Ärzteblatt zu lesen.
Doch damit gaben sich die beiden nicht zufrieden. «Wir wollten das Wissen besser verfügbar machen», erinnert sich Junghanss. So ist 15 Jahre später – und mit der Hilfe einer deutschen Software-Entwicklungsschmiede namens ‹Junidas› – aus dem Handbuch die englischsprachige In-ternet-Plattform ‹Vapaguide› entstanden.
Systematisches Diagnose- und Therapieschema
Vapaguide.info versteht sich als ‹Expertensystem zur Biologie und zum klinischen Umgang mit Vergiftungen›, wie auf der Webseite zu lesen ist. «Das Ziel war, der Ärzteschaft ein Instrument in die Hand zu geben, das eine angemessene medizinische Versorgung von Vergifteten gewährleisten kann», sagt Bodio. Die Nutzerinnen und Nutzer der Webseite können – auch mithilfe von Illustrationen der verschiedenen Gifttiere – anhand einfacher Kriterien das für den Unfall verantwortliche Tier identifizieren. Und mittels eines systematischen Diagnose- und Therapieschemas für solche Unfälle rasch herausfinden, was bei einer konkreten Vergiftung getan werden muss. «Vapaguide ist ein problemorientierter Leitfaden für Erste Hilfe, Diagnose und Behandlung», sagt Junghanss.
Im Unterschied zum Handbuch ist die Internet-Plattform frei zugänglich, sie hat sich unterdessen auch weltweit als Nachschlagewerk etabliert. Doch auch damit ist die Reise
von Junghanss und Bodio noch nicht zu Ende. Auch wenn die Kenntnisse über Gifttiere nun zwar breit verfügbar sind, werden sie noch zu wenig genutzt. Denn obwohl Vergiftungen grundsätzlich heilbar sind, versterben allein in Indien aufgrund von Schlangenbissen immer noch jedes Jahr knapp 60 000 Menschen.
Komplexe Ereignisse in entlegenen Gebieten
Das liegt an vielen verschiedenen Gründen und natürlich nicht nur am fehlenden Wissen. Trotzdem liesse sich mit einer optimierten Versorgung viel Leid ersparen. «Schlangenbisse sind komplexe Ereignisse in entlegenen Gebieten», sagt Junghanss. So brauchen etwa Dorfbewohner in Indien oft mehrere Stunden auf einem Motorrad, um zur nächsten Gesundheitseinrichtung zu gelangen. Das regionale Spital, wo das Gegengift gelagert ist, ist meist sogar noch weiter weg.
«Schlangenbisse werden oft als Resultat eines Konflikts zwischen Mensch und Tier wahrgenommen, doch das Problem liegt im fehlenden Zugang zur medizinischen Versorgung», sagt Priyanka Kadam, die Präsidentin der Snakebite Healing & Education Society in Mumbai. «Dass Schlangenbisse in manchen Fällen zum Tod führen, obwohl sie behandelbar sind, bedeutet, dass den Opfern ihr Recht auf Leben verwehrt wird. Unsere Bemühungen zur Linderung des Problems kommen den am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen zugute.»
«Hochkarätige Powergruppe»
Die Aktivistin hat sich mit Bodio und Junghanss zusammengetan – und eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe auf die Beine gestellt. Mit Spezialistinnen und Spezialisten aus dem Public Health-Bereich, aus der Intensivmedizin, der Herpetologie und der Epidemiologie, aber auch mit Experten zweier grosser indischer Antiveninhersteller, Vertretern des nationalen Ambulanztransports und einem Team von Computerexperten und Software-Entwicklern.
«Eine hochkarätige Powergruppe!», sagt Junghanss.
Unterstützt durch die Fondation Botnar in Basel, die International Emergency Care Foundation (IECF) in Zürich und die R. Geigy-Stiftung hat die Arbeitsgruppe einen für Smartphones geeigneten Algorithmus entwickelt. «Dabei kamen auch Schere und Papier zum Einsatz, das wir an die Wand hefteten», erzählt Bodio. «Es ging darum, das Wissen zu verdichten – und für unterschiedliche Nutzerinnen und Nutzer aufzubereiten.» Die App namens ‹Snakebite-Assistant› versorgt Angehörige eines Bissopfers, die Rettungssanitäter und schliesslich die Ärzteschaft im Spital mit den jeweils für sie relevanten Informationen, was sie unternehmen können, um der gebissenen Person zu helfen.
Gemeinsamer Lernprozess
Junghanss betont, dass viele lebensrettende Massnahmen unspezifisch seien – und die App deshalb auch das notfallmedizinische Raster wiedergebe, das sich ohne Weiteres auch auf Vergiftungen durch Giftschlangen anwenden lasse. Doch die App führt auch spezifische Massnahmen auf, die sich je nach Art der Schlange unterscheiden. Die Aktivistin Priyanka Kadam sieht in der App nicht nur eine Mög-lichkeit, die Behandlung von Schlangenbissen zu standardisieren, sondern auch die medizinische Ausbildung im Land zu verbessern.
Von einem gemeinsamen Lernprozess berichten alle Beteiligten. Bodio und Junghanss erzählen etwa, dass sie eine «gemeinsame Sprache finden» mussten, um sich mit den jungen Computerfachleuten von WowLabz zu verständigen, die im südindischen Bangalore den – an Indien angepassten – Prototyp der App programmiert haben.
Eigentlich hätte der ‹Snakebite-Assistant› schon im letzten Jahr von verschiedenen Fachpersonen in Indien getestet und genutzt werden sollen, wegen der Pandemie hat sich das Projekt etwas verzögert. Doch wer sich wie Bodio und Junghanss schon seit über zwanzig Jahren dafür einsetzt, das Wissen über Schlangenbisse unter die Leute zu bringen – und besser nutzbar zu machen, verliert das Ziel aufgrund von einigen Monaten Verspätung nicht aus den Augen. Nach der Anpassung für Indien sollen weitere regionale Versionen – etwa für Afrika südlich der Sahara oder für Mittel- und Südamerika – folgen.
Keine Hexerei oder göttliche Bestrafung
In allen diesen Regionen hängt ein beträchtlicher Teil der ländlichen Bevölkerung weiterhin der Vorstellung an, dass Schlangenbisse mit Hexerei oder göttlicher Bestrafung in
Verbindung stünden. Das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen führt dann oft dazu, dass von Giftschlangen gebissene Personen traditionelle Heiler anstatt Gesundheitszentren aufsuchen. «Wir hoffen, dass die App auch zur Aufklärung beiträgt», sagt Bodio. «Denn wir glauben, dass Bildung und Information bei einem Schlangenbiss helfen können.»
Vernachlässigte Tropenkrankheit
Weltweit fordern Giftschlangenbisse 80 000 bis 140 000 Menschenleben pro Jahr. Weitere 400000 Personen im Jahr überleben zwar den Biss einer Giftschlange – haben dabei aber mit schweren Folgeschäden wie Amputationen oder bleibenden Behinderungen zu kämpfen. Vergiftungen betreffen – im Gegensatz zu Krankheiten wie Krebs oder Demenz – in erster Linie junge Leute, die ihr Leben noch vor sich haben. «Oft werden Kinder gebissen», sagt Junghanss. Doch weil Giftschlangen hauptsächlich in tropischen Regionen vorkommen – und dort vor allem mit der wenig wohlhabenden Bevölkerung auf dem Land zusammenstossen, zeigten Pharmafirmen bis vor Kurzem kein grosses Interesse am Thema. Im Gegenteil: Das letzte grosse Unternehmen, Sanofi-Pasteur, hat das Geschäft mit dem Gegengift 2015 aufgegeben. Auf Drängen verschiedener Organisationen – wie etwa Médecins Sans Frontières und der Global Snakebite Initiative – hat die Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2017 Schlangenvergiftungen zu einer «prioritären vernachlässigten Tropenkrankheit» erklärt. Und –
zusammen mit Herstellern in Indien, die ihre Gegengifte global verkaufen, und neuen Impulsen aus öffentlich-privaten-Partnerschaften – einen Fahrplan definiert, wie die jährlichen weltweiten Todesfälle und Behinderungen bis ins Jahr 2030 halbiert werden sollen.
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