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Mit vorbereitetem Geist in der Badewanne

Aus der Zeit gefischt / Martin Hicklin



Neues zu erfinden ist ein unentbehrlicher Treiber in Wissenschaft und Wirtschaft. Bleiben die Innovationen aus, droht Stillstand. Nicht umsonst reden so viele davon, wie man am besten zu guten Ideen kommen könnte, die das Potenzial haben, die Welt zu verbessern oder die Erfinder und Erfinderinnen reich zu machen, am liebsten gleich beides. Da gibt es viele Rezepte, wie man locker bleiben und auch im Kollektiv die kreativen Kräfte freilegen könnte. Manch neue Worthülse wurde geschaffen, über deren Inhalt man rätseln darf. Guter, wenn auch oft teurer Rat soll helfen, wie man ein warmes Klima für coole Einfälle schafft.


Alle aber wissen wir seit Kindsbeinen aus eigener erfinderischer Erfahrung: Beste Einfälle kommen oft unverhofft und erst noch an den merkwürdigsten Orten. Beispielhaft erzählt davon die klassische Legende vom königlichen Erfinder Archimedes (285 – 212 v. Chr.) im sizilianischen Syrakus. Der habe sich eines Tages etwas heftig ins Bad gesetzt, um gleich wieder aufzujucken und schier ausser sich völlig hüllenlos durch die Gassen der Stadt zu laufen. Dabei soll er ununterbrochen ‹Heureka! Heureka!› – Griechisch für ‹Ich hab’s gefunden!› – gerufen haben. Der Grund für die Aufregung: Archimedes habe beim Einstieg beobachtet, wie sein Körper Wasser aus der Wanne verdrängte. Dies habe er in einem Geistesblitz als Weg zur Lösung eines Problems erkannt, das ihm König Hieron II. gestellt hatte. Nämlich zerstörungsfrei zu prüfen, ob seine bei einem Goldschmied in Auftrag gegebene Krone auch wirklich all das dafür bereitgestellte Gold enthalte. Des Königs Verdacht, der Schmied habe zum eigenen Vorteil mit Silber getrickst, erwies sich als berechtigt: Die Krone verdrängte mehr Wasser als ein gleichschwerer Barren Gold.


Archimedes hatte den richtigen Mindset für die kombinatorische Deutung sizilianischer Badephysik. Nicht verwunderlich, schliesslich gehört er zu den bedeutendsten Gelehrten der Antike und ist berühmt für seine Arbeiten mit den Hebelgesetzen, dem Auftrieb oder der Zahl π. Der Lösung seines Problems stand mit der Badewanne ein glücklichen Zufall Pate, was man seit Horace Walpole auch als Serendipity bezeichnet. Dieser Zufall bevorzugt nach dem berühmten angeblichen Wort Louis Pasteurs «den vorbereiteten Geist». Die Erfindungsgeschichte bietet zahlreiche Beispiele solcher von Serendipity begünstigter Geistesblitze in von der Nachwelt schön ausgeschmückten Legenden. Darum gibt es auch manche Ratschläge, wie man die Chancen für kreative Einfälle mehren und die Serendipity fördern könnte. Etwa indem man die Community-Rooms so gestaltet, dass die aus den Freuden und Leiden des Home Office zurückkehrende Belegschaft maximal kreativ bleibt und serendipitäre Momente ja nicht verpasst werden. Kaffeeautomat und Wasserkühler als Katalysatoren innovationsfördernder Begegnungen waren gestern.


Die archimedische Legende stellt den Vorgang der Innovation dramatisch als Einfall aus heiterem Himmel dar. Was aber, wenn Archimedes vor seinem erleuchtenden Bad des Königs Problem mit andern diskutiert hätte? Gut möglich, dass das Gespräch mit Seinesgleichen ihm geholfen haben könnte, ‹vom Zufall begünstigt› zu werden. Jedenfalls lässt sich bei manchen neuzeitlichen ähnlichen Legenden mit Blick auf erhaltene Laborjournale und Aufzeichnungen zeigen, dass die angeblich plötzliche innovative Einsicht einen längeren Vorlauf hatte und dem Geistesblitz die Anstrengungen vieler vorausgegangen sind.


Wie unglaublich viel für den Goldenen Schluss zusammenpassen muss, zeigt die derzeit wohl folgenreichste und millionenfach angewendete Erfindung, mit verimpfter, sorgfältig in winzige Fettbläschen verpackter mRNA unser Immunsystem auf Sars-Cov-2-Viren scharf zu machen. Wie im Journal ‹Nature› kürzlich ausführlich dargestellt wurde, ist die in unerhört kurzer Zeit realisierte massenhafte Herstellung dieser neuen Kategorie von mRNA-Impfstoffen erst durch die kluge kombinierte Nutzung einer über Jahrzehnte sich hinziehenden Folge von entscheidenden Einsichten auf einem Feld möglich geworden, das Hunderte von Forschenden beackert haben. Die Qual der Wahl dürfte der Grund dafür sein, dass 2021 kein Nobelpreis auf dem Gebiet verliehen wurde.


Es war allerdings unverschämtes Glück, dass die Kette von Heurekas gerade komplett genug war, als die Corona-Pandemie über die Welt herzufallen begann. So was lässt sich nicht erfinden.



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