Schon bald zieht das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) an eine neue Adresse – und verlässt seine langjährige Wirkungsstätte an der Socinstrasse. Höchste Zeit für eine Hommage an den Namensgeber der Strasse. Wer also war August Socin (1837 – 1899)? Ori Schipper
«Er hat sich nicht damit begnügt, die angehenden Ärzte in die technische und wissenschaftliche Seite ihres Berufes einzuführen, sondern er hat stets den Menschen zu erziehen, den Arzt ethisch zu adeln gesucht», hielt der Präsident des schweizerischen ärztlichen Zentralvereins 1899 während seiner Würdigung des soeben verstorbenen August Socin fest. «Und dabei wurde die Kraft des Wortes unterstützt durch die Macht des leuchtenden Beispiels.»
Klinikdirektor in Kriegslazaretten
August Socin war ein chirurgisches Ausnahmetalent, das Skalpell führte er «sicher und elegant», wie Samuel Meier in seiner in den «Basler Veröffentlichungen zur Geschich-
te der Medizin und der Biologie» erschienenen Socin-Biografie schreibt. Unter seiner Führung verwandelte sich die zuvor unbedeutende chirurgische Abteilung des Basler Bürgerspitals in eine angesehene Universitätsklinik, an der im Jahr 1899 dreimal mehr Kranke behandelt wurden als 1862, zum Zeitpunkt, in dem Socin die Direktion der Abteilung übernahm.
Trotz dieses grossen Erfolgs blieb Socin stets bescheiden. Aus dem Bedürfnis heraus, den Verletzten und Verwundeten zu helfen, leistete der Klinikdirektor freiwillige Einsätze in Kriegslazaretten, in Verona und Ravenna während dem Italienisch-Österreichischen Krieg 1866 und in Karlsruhe, als 1870 der Deutsch-Französische Krieg ausbrach.
Für seine Verdienste gleich hinter den Kriegsfronten erhielt Socin sowohl vom österreichischen wie auch vom deutschen Kaiser je einen Orden.
Als Klassenjüngster die besten Noten
August Socin kommt 1837 als Spross eines alten Basler Geschlechts in Vevey zur Welt. Seine Mutter Jeanne Frédérique Elise geb. Johannot leitet dort in ihrem Elternhaus ein Pensionat, wo sie die Töchter angesehener Basler Familien unterrichtet. Der Vater, August Socin senior, wirkte an der evangelischen Gemeinde von Vevey als Pfarrer. Er starb drei Tage nach der Geburt seines jüngsten Sohns, viel zu früh, um irgendeinen bleibenden Eindruck bei ihm zu hinterlassen.
Im Jahr 1849 zieht August mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Karl nach Basel, um sich weiter auszubilden. Sie kommen zuerst beim Grossvater, dem Basler Ratsherrn Johann Bernhard Socin, unter, bis ein halbes Jahr später auch die Mutter nach Basel übersiedelt und mit den beiden Söhnen eine Wohnung am Totentanz in der St. Johanns-Vorstadt bezieht. Die beiden Brüder besuchen gemeinsam das Gymnasium. Als Klassenjüngster erzielt August bei der
Maturitätsprüfung die besten Noten. Mit 17 Jahren beginnt er Medizin zu studieren, zuerst in Basel, dann in Würzburg, wo er an seinem zwanzigsten Geburtstag promoviert.
Nach Aufenthalten an den Kliniken von Prag, Wien und Paris kehrt Socin als 22-Jähriger nach Basel zurück. Er legt ein glänzendes Staatsexamen ab und fängt im Oktober 1859 an, als Assistenzarzt am Bürgerspital zu arbeiten. Mit seinem Chef Johann Jakob Mieg, Professor für Chirurgie und Geburtshilfe, versteht sich Socin bestens. Bei einem Patienten mit einer Fussverletzung wendet er – trotz anfänglicher Zweifel seines Vorgesetzten – eine neue Amputationsmethode an. Das wider Erwarten ausgezeichnete Ergebnis soll Mieg zum Ausspruch veranlasst haben: «Unter einem solchen Assistenten kann ich nicht mehr Oberarzt sein.»
Zugunsten von Basel ausgeschlagene Angebote
So reicht Mieg Ende 1861 seinen Rücktritt ein – und empfiehlt der Regierung mit Nachdruck, August Socin als seinen Nachfolger im Spital und auf dem Lehrstuhl zu wählen. Tatsächlich wird Socin im Februar 1862 zum Extraordinarius befördert. Dass für diese Stelle kein Lohn vor-
gesehen war, ist aus heutiger Warte betrachtet fast unvorstellbar. Doch: «Herr Professor Socin versieht bekanntlich faktisch die chirurgische Professur, ohne dafür eine Besoldung zu geniessen», schreibt die Universitätskuratel in einem Gesuch an das Erziehungskollegium Basel-Stadt. «Wir beehren uns, Ihnen die Erteilung einer Gratifikation [...] von Fr. 500 zu empfehlen.»
1864 wird Socin – im Alter von 27 Jahren – zum ordentlichen Professor für Chirurgie berufen. Er reorganisiert und vergrössert die Klinik und erarbeitet sich einen hervorragenden Ruf. Die Universitäten Bern, Marburg, Freiburg i. Br. und Würzburg unterbreiten ihm Angebote, die er aber alle zugunsten seiner Vaterstadt ausschlägt. Um ihn bei der Stange zu halten, bietet ihm das Erziehungskollegium 1865 eine Gehaltserhöhung (von Fr. 1250 auf Fr. 4000) an. In seinem Antwortschreiben führt Socin aus, dass er zur Überzeugung gelangt sei, dass er seine Stelle unter den jetzigen Umständen weder verlassen wolle noch verlassen dürfe. Und überdies aus Loyalität den anderen Fakultätsmitgliedern gegenüber die Besoldungserhöhung nicht annehme.
Neues antiseptisches Verfahren
Erst in den späten 1860er-Jahren setzte sich in der Medizin die Einsicht durch, dass Wunden möglichst keimfrei – oder im Jargon: antiseptisch – behandelt werden sollten. Nach siebenjähriger Erprobung trat Joseph Lister 1867 mit seinem neuen Verfahren an die Öffentlichkeit: Es galt, die Wunde mit einer 5 %igen wässrigen Karbollösung zu waschen und mit einem in 20 %iger Lösung getränkten Lappen zu bedecken. Socin bekannte sich sofort zum Listerismus – und führte die neuen antiseptischen Methoden schon im März 1868 in Basel ein. «Man darf zweifelsohne Socin das Verdienst zuschreiben, als einer der allerersten auf dem Kontinent das Listersche Verfahren angewandt zu haben», schreibt Meier in seiner Socin-Biografie.
Emil Burckhardt, gemäss Meier «einer der bedeutendsten Schüler Socins», verglich in seiner 1881 veröffentlichten Dissertation «Die Erfolge der chirurgischen Klinik zu Basel während der letzten zwanzig Jahre» die Operationsergebnisse der vorantiseptischen Zeit mit den Ergebnissen, die die Ärzteschaft erzielte. Wurde das Listersche Verfahren angewandt, halbierte sich die mittlere Heilungsdauer. So konnten Patienten etwa nach einer Amputation im Schnitt
schon nach 48.7, anstatt wie zuvor erst nach 103.5 Tagen das Spital verlassen.
Noch eindrücklicher wirkte sich die Listersche Methode aber auf die Todesraten der Operationen aus: Zur Zeit der Vorantiseptik verstarben beispielsweise bei Amputationen
noch 43,7 % der Patienten, nach der Einführung des Listerismus noch 11,5 %. Und die Letalität der Operationen von Hernienbrüchen verringerte sich sogar von 77,7 % auf 10,2 %.
Gründung eines Invaliden-Instituts
Auch im Lazarett am Karlsruher Bahnhof, welches Socin im August 1870 in einem grossen Saal einer Lokomotivwerkstätte einrichtet, achtet er auf die Hygiene. In die Mauern und in das Dach lässt er Löcher schlagen, damit der Saal gut durchlüftet bleibt. Ein Sodbrunnen und ein Abflusskanal mitten im Saal helfen, den Boden und die 400 Betten möglichst rein zu halten.
Als Socin das Lazarett übernimmt, ist er überzeugt davon, «dass jede frische Wunde heilen kann und dass jede Störung des Heilungsvorgangs von aussen und durch das Eindringen von Keimen zustande komme», schreibt Meier. Die Realität im Krieg ist allerdings eine andere: Es kommen meist nicht frische, sondern vom tagelangen Transport verschleppte und verunreinigte Verwundungen zur Behandlung. Deshalb sind trotz strenger hygienischer Massnahmen Schüttelfrost, nächtliches Gestöhne und wilde Delirien oft
nicht zu vermeiden.
Für jeden der 643 Kriegsverletzten, die Socin im Lazarett behandelt, führt er auch eine Krankengeschichte. Diese Unterlagen nimmt er – als Kriegstrophäe, wie Socin selber zu sagen pflegte – nach Basel mit, wo er das Material dann auswertet und in seinen «Kriegschirurgischen Erfahrungen» veröffentlicht. Aus seiner Verwundetenstatistik zieht Socin keine spektakulären Schlussfolgerungen, seinem Charakter entsprechend geht es ihm vielmehr darum, in einer sachlichen Standortbestimmung seine Erfolge wie auch seine Misserfolge unverblümt darzustellen, schreibt Meier.
Dass sich Socins Hilfsbereitschaft nicht auf chirurgische Aufgaben beschränkt, die sich mit Nadel und Skalpell ausführen lassen, sondern weit darüber hinausgeht, beweist er mit der Gründung eines Invaliden-Instituts, das sich um die Rehabilitation von Kriegsverletzten kümmert und unter anderem Prothesen für Arm- und Beinamputierte herstellt. Für Socin sind Kriegsgeschädigte «sprechende Zeugen vergangener Greuel». Und ihm ist ihr schweres Schicksal so wichtig, dass er alles in seiner Macht Stehende unternimmt, um es zu lindern.
Comments